„Vom Aufstehen“ (in der unendlichen, eisigen Welt) – Helga Schubert

Das beste deutschsprachige Buch, das ich seit vielen Jahren gelesen habe.

Es gibt sehr viele Autoren, die sich mit der deutsch-deutschen Geschichte beschäftigen und dementsprechend eine Flut an einschlägigen Büchern – aber es gibt keinen Schriftsteller, der es bisher geschafft hat, eine Geschichte zu erzählen, sodass die Geschichte eines zweigeteilten Landes zu einer Art Bühnenbild wird. Dieser Aufbau ist genial.

Helga Schubert erzählt ihre Lebensgeschichte, und sie hat viel zu sagen. Ihre Formulierungen sind verständlich, schlicht, klassisch-edel. Die Sprache dient als Transportmittel von Inhalt (Form follows Function), als wirkendes Konstrukt.

Ich konnte das Buch nicht weglegen. Ein wahrer Schatz der deutschsprachigen Literatur, und genau deshalb wurde es 2021 mit dem Bachmann-Preis gewürdigt.

Ein Buch einer 80-jährigen Frau, in Einzelepisoden erzählt. Eine persönliche aber gleichzeitig deutsch-deutsche Geschichte. Die Geschichte einer außergewöhnlichen Frau, Psychologin, Widerstandskämpferin und begnadeten Erzählkünstlerin.

Vor 40 Jahren war Helga Schubert bereits für den Bachmann-Preis nominiert, aber sie „durfte“ damals nicht aus der DDR ausreisen. Sie war für viele weitere Preise nominiert, durfte/konnte sie aber als DDR-Schriftstellerin nicht annehmen. Sie schrieb weiter, und ich freue mich bereits auf das im September herauskommende neue Buch („Lauter Leben“) von ihr, denn am liebsten möchte ich nicht aufhören, Helga Schubert zu lesen.

Warum ist “Vom Aufstehen” ein MUST-READ?

  • Weil es einen hoch komplexen politisch-geschichtlichen Kontext auf schlichte Weise darlegt, en passant, weil es eine andere Geschichte in den Vordergrund stellt: Die Geschichte darüber, eine lieblose, kalte Mutter zu haben, die einen ein Leben lang spüren lässt, dass man ihrer Gnade wegen lebt.
  • Es ist die Geschichte vom Überleben, vom Aufstehen, Tag um Tag „in der unendlichen, eisigen Welt“, es geht um Ehe, Scheidung, erneute Ehe, Menschen und Geschehnisse, in einer Welt, in der man „die Tochter seiner Mutter“ ist – mal mit mehr mal mit weniger Kummer.
  • Es geht darum, 80 Jahre geduldig zu warten, bis man all dies aufschreiben kann.
  • Es geht um Diktaturen und darum, in und mit ihnen zu überleben.
  • Es geht darum, sein Schicksal anzunehmen, manchmal mit Mut, manchmal mit fatalistischer Haltung. Es geht aber auch darum, immer wieder, aufstehend, Widerstand zu leisten, im Kontext eines Regimes, in dem Helga Schubert von der Stasi überwacht wurde. Ihr wurde viel genommen. Uns beschenkt sie, heute dafür mit deutscher Literatur vom Allerfeinsten.
  • Es geht darum, sich so zu sehen, wie man ist, nicht wie man gerne sein möchte. Und es geht um Hoffnung und Trost, denn es ist immer jemand da, von dem man verstanden wird und Liebe erfährt. Helga Schubert spricht von der Gewissheit, dass es stets eine Lösung gibt, egal unter welchen Umständen man aufwächst. Und sie tut das ohne besserwisserisch zu sein, mit der Weisheit einer alten Frau.

„Alles gut“, so ihr letzter Satz.

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